AM54 – Brief an Walter Gropius
New York, Montag, 26. Dezember 1910


26 Abends

Mein

Heute Nachmittag – umfieng mich urplötzlich das herrliche Mondlicht der ersten Tobelbader Nacht –– ich sah uns Beide an dem Bacherl sitzen – wortlos – gefühlsvoll – ich lebte alles wieder und fand, dass ich die letzten Monate Dir zu wenig – ja – fast nichts


von mir gegeben habe . . . . Und doch – war ich immer voll Liebe zu Dir.

Warum aber dieser wortkarge Geiz? . . . .

Verzeih mir – mein [,] und schreibe mir umgehend – und sage mir – bist Du Derselbe noch[,] den ich „kannte“ – ohne Beschönigen!! – Bist Du mir voll und ganz und bis ins kleinste Zellchen treu geblieben . . . .

Ich bitte Dich – sag es mir offen – ich muss es wissen! Dann werden wir noch sehr froh

werden. Meine Sehnsucht ist heute größer denn je – zu Dir . . . . . .

Deine Bilder habe ich vor mir — ich fühle Deine rasenden Umschlingungen – ich will sie wieder fühlen . . . und noch viel mehr!!!! Wir müssen die Welt durchjagen mit unsrer Liebe. –

Deine Augen und meine Augen – was für blendende Seelenspiegel wird diese Addition \er/geben!! Liebe mich – lebe für mich. Schone Deinen

schönen Körper — helfe ihm, dass er schön und rein und gesund bleibt. Verwirken wir nicht das sichere Glück, das wir in Händen gehalten haben – gegenüber dem großen /chorus\ chorus mysticus der Welt!! —

Schreibe mir —

auch ob ich für Dich wahrgeredet habe!

Ich liebe Dich! —

Was wünsche ich mir für 1911. ?

Dass ich Dich gleich intensif weiter lieben darf? — Von Gottes Gnaden!


Weißt Du – wenn ich nicht oft – täglich – schreib – Du hast keine Ahnung[,] wie wenig ich allein bin[.] – Nun gar, wenn ich arbeite und brauche das bissel Zeit, wo auf den Proben ist – von 10h bis 12h. –

Den ganzen übrigen Tag ist er zu Haus – Abends ist fast jeden Tag da. So sitzen wir 3 und plauschen fast jede Nacht bis 1/2 1 – 1/2 2h Nachts[.] —


Diese Gespräche sind etwas so eigenartiges – so collossal fesselndes, das [!] ich gerne die Nächte opfere – um daran theil zu nehmen. [.] Aber er ist nur Gehirn für mich! –

Sonst ist hier, wie überall der Mob obenauf. Sonntag waren wir in der Generalprobe der von [!] – „dem deutschesten aller deutschen Componisten[“][,] wie ihn nannte – der Opern aus den abgeschnittenen Fingernägeln macht.

Ich habe selten so

leere Capellmeistermusik gehört! und ich saßen da – schauten uns immer sprachlos an u. giengen nach dem II[.] Act weg. Mitgenommen hatten wir nichts als Eckel vor der Menschheit, die immer Sägespäne für Brot frisst, und dabei begeistert grunzt. Wir waren bei 5 dinners geladen „to meet Mr. „ [!]““ – haben jedes abgesagt – leider mussten wir für Donnerstag den 6ten [Dinner] annehmen! Bin neugierig – wie besoffen ihn der jetztige [!] Rummel hier gemacht hat. –

Wir haben America schon

ein bissel satt, obwohl ich überzeugt bin, dass wir unglücklich sein werden – besonders ich – wenn das Schiff hier das letzte Mal für uns aus dem Hafen gehen wird! – Denn schön – wunderbar schön ist es hier – aber Kunst darf man halt keine hier suchen! — Xmas war lieb u. reich – hat mich mit Geschenken übersäht [!]. Verdiene ich eigentlich all diese Liebe? —

Seit Wochen konnte ich keinen Brief von Dir holen. Aber in den nächsten Tagen hoffe ich[,] die Möglichkeit zu haben.

Ich küsse Dich ins neue Jahr hinein!

Deine [!] Weib – Deine Braut – Deine


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , .

Quellenbeschreibung

4 Bl. (8 b. S.) – Briefpapier mit dunkelblauem Monogramm (Zum Material von Alma Mahler) aus den stilisierten Initialen AMs in Prägedruck (, , ).

Beilagen

Umschlag, , Germany | Berlin W. | Nicolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt.: GRAND CENTRAL, STA. N.Y. | DEC 27 | 12 – PM | 1910; von WG mit einer 10 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen).

Druck

, S. 1093f., bei Anm. 504 (Auszug in teils fehlerhafter engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG117 vom 19. bis 21. Januar 1911 (Humperdinck-Oper […] Du sagst „verzeih mir Walter“ – ich habe Dir nichts zu verzeihen): Verzeih mir […] Sonntag waren wir in der Generalprobe der Königskinder von Humperdingk [!].

Datierung

Absendedatum: „27 Dec.“ (, S. 1094, Anm. 504).

Datiert durch AM und Poststempel: 26[.] Dezember 1910.

Übertragung/Mitarbeit


(Pia Schumacher)
(Tim Reichert)


A

Dreifach unterstrichen.

B

Bilder hatte im Vorfeld von AM13 vom 6. August 1910, AM19 vom 14. August 1910 und AM25 vom 24. August 1910 Fotos sowie Aktzeichnungen von WG erhalten.

C

/chorus\ […] mysticus – letzter Chor aus , Text aus , nicht erhaltene Textdeutung durch („Deine Deutung der letzten Verse ist famos“, Brief von an vom 22. Juni 1909, Nr. 276, S. 388, dort Textdeutung durch ).

D

Vierfach unterstrichen.

E

arbeite – wahrscheinlich an ihren Liedern, s. Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.

F

Unleserlich durchgestrichener Buchstabe.

G

Generalprobe der Königskinder von Humperdingk [!] – Uraufführung des Melodrams (1897) in der Opernfassung von am 28. Dezember 1910 (Metropolitan Opera) unter der Leitung von (, Met Performance CID 49510).